Dr. Wolf Karge

Leseprobe:
Was will die Schlange am Rathaus?
Wenn man ihren Kopf streichelt, soll das Glück bringen. Ob das stimmt? - Wer weiß. Ist es aber wirklich eine Schlange, die sich da vor dem Rostocker Rathaus um eine Säule windet? Jedenfalls ist der Kopf ganz unverkennbar ein Schlangenkopf. Wenn man dann genauer hinschaut, scheint der Schwanz eher zu einem Aal gehörig. Das merkwürdige Tier aus Bronze ist noch nicht sehr alt - 1998 wurde es getauft auf den Namen Johannis, weil der Tauftag der Johannistag war - der 24. Juni, obendrein der Stadtgeburtstag. Der jetzige Schlangenaal ist damit aber nur der Jüngste in einer Reihe von Ahnen. Denn die Vorfahren der Aalschlange sind schon wesentlich älter. Sie kann wohl schon die Ururenkelin der ersten dort gesichteten Schlange sein. So ganz genau weiß man das aber nicht. Sicher ist aber, dass vor weit über 100 Jahren bereits dort so ein Tier siedelte. Das hat nämlich ein kluger Mann gesehen und abgezeichnet. Schlechte Menschen oder Barbaren zerstörten sie. Nachfahren wurden ummodelliert, gestohlen und wiedergebracht. Mal war sie aus Kalk, mal aus Zement und nun aus Bronze. Das weiß man. Warum das seltene Reptil sich aber um die Säule vor dem Rathaus windet - das weiß keiner; auch nicht der Oberbürgermeister, der direkt über ihr sein Amtszimmer hat. Es gibt verschiedene Deutungen. Schlangen symbolisieren durch ihre Häutung Unsterblichkeit. Soll dieser Hinweis der Stadt oder dem Oberbürgermeister zugeordnet werden? Darüber zerbrechen sich viele den Kopf. Vielleicht sollen falsche Schlangen (symbolisiert durch die gespaltene Zunge) vom Rathaus ferngehalten werden? Schlangen gelten aber auch als weise Tiere - das wäre ebenfalls eine schöne Möglichkeit für ein Rathaus. Sie selbst - die Aalschlange (oder ist es doch ein Schlangenaal?) sagt ja nichts. Sie behält ihr Geheimnis für sich und schaut die Streichelhand auf ihrem Kopf listig an. Vielleicht bringt sie ja doch Glück? ...