Dr. Wolf Karge

Autor, Publizist, Museumsberater

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Illustrierte Geschichte Mecklenburg-Vorpommerns
Hinstorff-Verlag
Bildredaktion: Reno Stutz
Rostock 2008
ISBN 978-3-356-01284-2
Leseprobe:
Velociped, Fahrrad oder Sicherheitsrad
Sie waren die schnellsten Fortbewegungsmittel ihrer Zeit. Sie wurden Velociped oder auch schon Fahrrad bzw. Sicherheitsrad genannt. Die Bevölkerung spaltete sich um 1895 in Radfahrer und deren Gegner. Es gab Radfahrvereine und andere Lobbyverbindungen einerseits und andererseits empörte Bürger und Beamte, die dem wilden Treiben wenn schon nicht Einhalt so doch wenigsten Grenzen setzen wollten. Gesetzliche Vorlagen aus anderen deutschen Landen wurden beschafft und ausgewertet. Dadurch mit der notwendigen Weisheit ausgestattet, schrieb das Staatsministerium 1896 an den Schweriner Großherzog Friedrich Franz III.: „In Folge der andauernd sich steigernden Benutzung des Fahrrades zum Verkehr auf öffentlichen Wegen und in Anlaß der stellenweise dabei hervorgetretenen Unzuträglichkeiten ist den Ständen zum vorigen Landtage der allerunterthänigst hieneben angeschlossenen Entwurf einer Verordnung vorgelegt worden, welcher die Bestimmung hat, das Verhalten zwischen Radfahrern und dem übrigen die öffentlichen Verkehrsstraßen benutzenden Publicum allgemein in ähnlicher Weise zu regeln, wie dies in benachbarten preußischen Provinzen bereits geschehen ist.“ Die „Verordnung betreffend den Verkehr mit Fahrrädern auf öffentlichen Wegen“ erschien im Regierungsblatt vom 5.6.1896 und gleichlautend am 6. Juli 1896 im „Großherzoglich Mecklenburg-Strelitzschen Officiellen Anzeiger für Gesetzgebung und Staatsverwaltung“.
Doch auch die Radfahrvereine achteten auf Disziplin. Die „Fahrordnung des Radfahrerverein Germania Schwerin“ vom 20.9.1895 legt u.a. fest: „Das rasche Fahren in den Straßen der Stadt, besonders um Straßenecken, ist unstatthaft; ferner auch das Rauchen auf den Rade. Entgegenkommenden Fuhrwerken, Fussgängern und Reitern wird stets rechts ausgewichen, beim Ueberholen derselben wird links vorbeigefahren. Den geführten Pferden ist stets auf der Seite des Führers vorbeizufahren. Beim Treffen eines unruhigen Pferdes oder Vorbeifahren an einem solchen, soll nur auf Verlangen abgestiegen werden, da das plötzliche Absteigen oft ein schlechtes Resultat hat. Der Fahrer hat die Pflicht, beim Vorbeifahren an Fuhrwerken, Reitern und Fussgängern, denselben so weit wie möglich auszubiegen, sowie stets rechtzeitig Signal mit der Glocke zu geben, Fussgängern gegenüber die größte Rücksicht zu nehmen und nur für den Fall, dass der Fahrer nicht ausweichen kann, in der freundlichsten Weise um Platz zu bitten, da hier von Verlangen keine Rede sein kann.“
In größeren Städten wurden fahrradfreie Zonen eingerichtet. Wünsche nach Ausnahmen folgten, wie vom Vorstand des „Vereins Schweriner Ärzte“: „Wenn gerade hier in Schwerin während der letzten Jahre unter den Ärzten der Gebrauch des Fahrrades sich so sehr eingebürgert hat, so wird man leicht erkennen, woran das liegt. Wir haben hier großstädtische Entfernungen (bis zu 2 ½ Kilometer und mehr!), es fehlen uns aber die großstädtischen Verkehrsmittel. Es fehlen uns Straßenbahnen und Omnibusse. Das Fahrrad trägt ganz außerordentlich viel dazu bei, uns die nöthige Frische und Berufsfreudigkeit zu erhalten!“ Das Polizeiamt Schwerin war zunächst dagegen, gab aber dem Innenministerium nach. „In der Sache wird es nicht viel ausmachen, wenn die radfahrenden Aerzte die gesperrten Straßen benutzen; es wird die Hälfte von ihnen sein, also ungefähr 20.“ Härte zeigte das Polizeiamt aber gegen den „Schweriner Bürgerverein“. Er hatte eine Petition verfasst gegen die Sperrung von innerstädtischen Straßen für Fahrräder, weil dadurch die Gewerbetreibenden behindert würden. Das Polizeiamt schmetterte das Ansinnen als „ziemlich unmanierlich gehaltene Eingabe“ ab: „Durch das schnelle Fahren, das erst in nächster Nähe sich bemerkbar macht, durch das schnelle Vorübersausen und das unaufhörliche Geklingel wird das Publikum in hohem Maße belästigt und die große Menge ist sehr damit einverstanden, dass es einige Straßen giebt, in denen nicht Rad gefahren werden darf.“ Gleichzeitig bemerkte das Amt: „Radfahrer sind höchstens 1000 in der Stadt.“ 1899 startete das Schweriner Innenministerium dazu eine Umfrage unter den Städten Mecklenburgs. Anlass waren Überlegungen zur Erfassung aller Radfahrer durch Kennkarten oder Kennzeichen. Teterow meldete: „Daß derartige Übelstände, die eine schärfere Controlle erforderlich machten, hier noch nicht in die Erscheinung getreten sind. Dabei müssen wir jedoch bemerken, dass in Folge unserer lokalen Verhältnisse die Radfahrer in unseren Straßen schon von selbst langsam fahren.“ Stavenhagen meinte dagegen: „Wenn man auch dem Radfahrsport wohlwollend gegenübersteht und die bekannte Rücksichtslosigkeit mancher Radfahrer gegen das Publikum gerne milde beurtheilen möchte, so wird man bei der schnell wachsenden Zahl der Radfahrer doch nicht umhin können, Maßnahmen zur Feststellung der Persönlichkeit derselben auch in unserem Lande in Aussicht zu nehmen.“ Soviel zum Datenschutz vor 100 Jahren. Andere Städte meldeten „Fehlanzeige“. Die Rostocker Stadtväter witterten eine Einnahmequelle und beschlossen eine Fahrradsteuer. Doch das Schweriner Innenministerium verweigerte die Genehmigung, weil nicht klar sei, ob die Einnahmen auch tatsächlich ausschließlich zur Anlage von Radwegen genutzt würden.
Die Klagen blieben, wie eine empörte Zuschrift an den Rostocker Anzeiger belegt: „Es dürfte an der Zeit sein, einmal darauf hinzuweisen, mit welcher Rücksichtslosigkeit Radler männlichen und weiblichen Geschlechts der verschiedensten Lebensalter, welche die Tessiner und Kessiner Chaussee befahren – sie sind für jene Gegenden geradezu eine Landplage geworden – die Fußsteige benutzen! Nicht einzelne des Publicums, sondern die Mehrzahl der Radfahrer sind die Rücksichtslosen. Es geht soweit, dass, wie am vorigen Sonntag fünf Radler hintereinander den von Fußgängern belebten linken Steig der Tessiner Chaussee entlang fuhren – jagten – und Mütter mit Kinderwagen schleunigst auf die Fahrstraße ausweichen mussten!“
Trotzdem nahm die Zahl der Radler in dieser Zeit erheblich zu. Das Sicherheitsrad mit Kettenübertragung war erschwinglich geworden und verdrängte das gefährlichere Hochrad.
Doch die rasenden Radfahrer gerieten bald in den Hintergrund der Empörung, denn 1901 erschienen in Preußen erste Bestimmungen zum Gebrauch von Kraftfahrzeugen. ...
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